Zionismus: Palästina und der Zionismus

Zionismus: Palästina und der Zionismus
Zionismus: Palästina und der Zionismus
 
Die Anfänge des britischen Palästinamandats (1917—1922)
 
Die Juden Palästinas empfingen freudig die australischen und neuseeländischen Abteilungen, die 1917 Jerusalem erreichten und mit anderen Teilen der britischen Armee im Verlauf des Jahres 1918 ganz Palästina befreiten. Es herrschte der naive Glaube, das mit der Bibel verbundene Volk der Briten habe das Land der Bibel für das Volk der Bibel befreit. Aber noch vor Kriegsende wurden Probleme sichtbar, über die keiner vorher nachgedacht hatte: der Zusammenstoß zwischen jüdischem und arabischem Nationalismus, die imperialen Interessen Englands, im Ansatz auch internationale Verwicklungen. Der Idealismus der Balfour-Erklärung konnte diese Gegensätze nicht überbrücken, er verschärfte sie eher.
 
Palästina wurde zunächst als Occupied Enemy Territory Administration unter Militärverwaltung gestellt und blieb dies bis Juni 1920. Im Dezember 1918 stellte die von Chaijim Weizmann geführte »Zionistische Kommission« fest, dass sie in Palästina keine Befugnisse hatte, da die britische Militärregierung die Araber nicht gegen sich aufbringen wollte. Die politische Lage war im Fluss, auseinander strebende Interessen machten sich bemerkbar. Am 3. 1. 1919 unterschrieb Emir Feisal, Befehlshaber der an der Seite Großbritanniens kämpfenden arabischen Truppen, eine später relativierte freundliche Erklärung, der gemäß die Araber die Rückkehr der Juden in das Land ihrer Väter wohlwollend betrachteten. Feisal hoffte dabei wohl auf jüdische Unterstützung bei seinem Plan, in Syrien die Königswürde zu erlangen und seine Herrschaft dort zu etablieren.
 
Auf der Pariser Friedenskonferenz begannen die Siegermächte des Ersten Weltkrieges 1919 ihrerseits über die Struktur eines neuen Staatensystems auf dem Gebiet der früheren Provinzen des Osmanischen Reiches zu verhandeln. Die zionistische Bewegung unterbreitete der Konferenz eine Landkarte über ihre territorialen Vorstellungen eines zukünftigen jüdischen Staates, die auch Teile Libanons, Transjordaniens und des Sinai umfasste. Natürlich wurde dies sofort von der Friedenskonferenz zurückgewiesen.
 
In Syrien vermochte sich Feisal nicht durchzusetzen, da sich dort zunehmend die Franzosen behaupteten, die dieses Gebiet auf der Grundlage des Sykes-Picot-Abkommens von 1916 für sich beanspruchten. Vermutlich mit britischer Unterstützung brach dort ein Aufstand gegen die französische Herrschaft aus, der auch das jüdische Siedlungsgebiet von Tel Chai im Norden Israels in Mitleidenschaft zog. Am 1. März 1920 umzingelten Hunderte von rebellierenden Arabern Tel Chai mit der Behauptung, dass dort Franzosen Unterschlupf gewährt worden sei, und griffen den Ort an. Die Verteidiger konnten der Übermacht nicht standhalten; sechs von ihnen fielen im Kampf, darunter auch Joseph Trumpeldor, der sich seit seiner Einwanderung nach Palästina in den Dienst der Verteidiger der entlegenen Siedlungsgebiete im Norden des Landes gestellt hatte. Sein Tod wurde für die zionistische Bewegung zum Mythos, zum Symbol der Selbstbehauptung und zur Verpflichtung, jüdische Siedlungen bis zum Äußersten zu verteidigen.
 
Auf der Konferenz von San Remo einigten sich die Siegermächte im April 1920 endgültig über die Aufteilung der arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches. Sie schufen ein System von Mandaten, das den Kolonialismus im althergebrachten Stile vermeiden sollte. Als Mandatsgebiete der A-Kategorie eingestuft, galten die früheren arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches als Gebiete, bei denen die Voraussetzungen für Selbstständigkeit im Ansatz gegeben waren. Diese Mandate wurden als zeitlich begrenzte Herrschaft konzipiert und waren mit der Verpflichtung gekoppelt, den Bewohnern zur Selbstständigkeit und Selbstregierung zu verhelfen. In diesem Rahmen erhielt Frankreich das Mandat für Syrien und Libanon ohne den nördlichen Teil Israels, England das für den Irak und Palästina, wobei Palästina nach der Definition von 1920 auch Transjordanien umfasste. Nach Beendigung der Militärverwaltung übernahm Herbert Samuel am 1. Juni 1920 als erster britischer Hochkommissar die Verwaltung des Palästinamandats.
 
Noch aber kehrte in Palästina keine Ruhe ein, es gärte weiter. Der Führer des arabischen Widerstands gegen die jüdische Besiedlung Palästinas, Mohammed Said Amin al-Husaini, genannt Hadj Amin, behauptete, dass eine geplante Erste-Mai-Demonstration 1921 auf das Ziel der neuen Einwanderer hindeute, Palästina »zu bolschewisieren«. Er inszenierte gewalttätige Demonstrationen, bei denen 47 Juden ums Leben kamen. Herbert Samuel, dem es gelang, dieser Unruhen Herr zu werden, glaubte nunmehr, den arabischen Radikalismus, besonders den al-Husainis, in kooperative Bahnen lenken zu können. Nach dem Tode des Muftis von Jerusalem im März 1921 ernannte Samuel am 8. Mai 1921 al-Husaini, der noch von der Polizei gesucht wurde, zu dessen Nachfolger in der Hoffnung, die palästinensische Gesellschaft oder wenigstens die einflussreiche Familie der Husainis der englischen Palästinapolitik geneigter zu machen.
 
Aber die Entwicklung nahm einen anderen Verlauf, als es sich Samuel vorgestellt hatte. Dies hing mit der Entwicklung der Grenzfrage zusammen: Der englische Kolonialminister, Winston Churchill, trennte 1921 Transjordanien vom Palästinamandat ab und gründete dort das Emirat von Transjordanien mit dem Emir Abdallah ibn al-Husain an der Spitze. Seinen Bruder Feisal, der endgültig aus Syrien vertrieben worden war, ernannte die britische Regierung zum König von Irak. Aus zunehmender Sorge über den unerwarteten arabischen Widerstand gegen die jüdische Einwanderung veröffentlichte Winston Churchill ein »Weißbuch« mit Verordnungen von grundsätzlicher Bedeutung. Danach sollte die Einwanderung der Aufnahmefähigkeit des Landes entsprechen. Der Geist der Balfour-Deklaration wurde damit in seiner prozionistischen Gesinnung relativiert. Churchill schlug zudem eine Gesetzgebende Versammlung vor, an der nur zwei Juden — gegenüber zehn Arabern — beteiligt sein sollten. Die zionistische Bewegung wurde ultimativ aufgefordert, den neuen Bestimmungen, vor allem der Abtrennung Transjordaniens, zuzustimmen, sonst sähe sich England nicht mehr an die Balfour-Deklaration gebunden. Die zionistische Exekutive stimmte nun dieser Änderung zu. Am 22. Juni 1922 übertrug der Völkerbund England — diesmal endgültig — das Mandat über Palästina.
 
 Die dritte und vierte Einwanderungswelle
 
Die politische und soziale Geschichte der Juden in Palästina bis zur Gründung des Staates Israel und darüber hinaus war stets von Einwanderungswellen geprägt. Gerade in der Ära des Mandats lässt sich sehr gut eine deutlich trennende Linie zwischen zwei Einwanderungsschüben ziehen, trotz der Gemeinsamkeiten, die in der zionistischen Idee angelegt waren. Nach den ersten beiden Einwanderungswellen vor dem Ersten Weltkrieg, die 1882 und 1904 eingesetzt hatten, kam es zwischen 1919 und 1923 zu einer dritten Einwanderung, in deren Verlauf etwa 35000 Juden das Land besiedelten. Bei ihnen handelte es sich um Einwanderer mit fest umrissenen, oft militanten, linksrevolutionären Vorstellungen mit polarisierenden Wirkungen. Mit den Selbstverwaltungsorganen des Jischuw (bewohntes Land), wie die Gesamtheit der jüdischen Siedlungen und Einwohner in Palästina seit der zionistisch motivierten Einwanderung genannt wurde, legten sie die Grundlage für die Gewerkschaft Histadrut, für die damals ausgedehnte Kibbuzbewegung und die gesamte »Arbeiterkultur«. Dagegen legte ein weiterer Einwanderungsschub zwischen 1924 und 1928 das erste Fundament für eine urbane Kultur in Palästina; es entstanden die Städte Tel Aviv und Ramat Gan. Neben dem »Arbeitersektor« entwickelte sich in der Wirtschaft der private Sektor. In dieser Zeit gewann die jüdische Gemeinde eine pluralistische Struktur.
 
Die Parteien im Jischuw
 
Entsprechend den Statuten des Mandats, aber auch gemäß ihrem Selbstverständnis waren die zionistische Bewegung und die jüdische Gemeinde in Palästina demokratisch orientiert. In der Zeit nach 1919 kristallisierten sich jene politischen Gruppierungen heraus, die im Wesentlichen auch heute noch bestehen. Die bis Anfang der 30er-Jahre stärkste Partei war die »Partei der Allgemeinen Zionisten«. Sie trat für private Initiative ein, kämpfte für die Bauern des privaten Sektors und für den sich herauskristallisierenden Mittelstand. In ihren nationalen Anschauungen zeigte sie sich gemäßigt.
 
Eine andere Richtung war das Arbeiterlager. Die 1919 gegründete Partei Leachdut Haavoda, in der auch David Ben Gurion wirkte, hatte gewisse linke, aber keineswegs marxistische Tendenzen. Sie vereinigte sich 1930 mit der stark reformistisch orientierten Arbeiterpartei des Hapoel Hazair zur Mapai, einer Partei, die unter Leitung von Ben Gurion sehr bald führend wurde, obwohl sie niemals die Mehrheit gewann. An ihrer Spitze stieg Ben Gurion zum Führer der Juden Palästinas auf. Unter den anderen Gruppierungen im linken Lager versuchte die Haschomer Hazair eine Synthese zwischen sich, dem Marxismus und dem Zionismus zu finden.
 
Das rechte Spektrum des Parteienfeldes verzeichnete ebenfalls eine vielschichtige Entwicklung. 1925 gründete Wladimir Jabotinsky, ein begabter Redner und zionistisch militanter Politiker, die »Revisionistische Partei«, die unter anderem gegen die Teilung Palästinas von 1921 kämpfte: »Zwei Ufer hat der Jordan — das eine ist unser, das zweite ebenfalls.« Die Revisionisten betonten den Wehrgedanken und forderten die Aufstellung einer eigenen jüdischen Armee. In der Diaspora, vor allem in Polen, verfügten die Revisionisten über eine große Anhängerschaft. Die verfolgten Juden dieses Landes hatten das Gefühl, dass Jabotinsky mehr Gespür für ihre Probleme und ihren verletzten Stolz aufbrachte als Ben Gurion und seine Arbeiterpartei.
 
Neben diesen beiden Blöcken gab es die religiösen Parteien. Die 1902 gegründete Partei Mizrachi war in Struktur und Anschauung den »Allgemeinen Zionisten« sehr ähnlich mit dem grundsätzlichen Unterschied, dass ihre Mitglieder religiös bestimmt waren. Die 1922 gegründete Hapoel Hamizrachi neigte eher dazu, mit den Arbeiterparteien — vor allem mit der Mapai — zu koalieren. Es gab zudem die beiden orthodoxen Parteien Agudat Israel und Poali Agudat Israel.
 
Zwischen den Lagern gab es große Meinungsverschiedenheiten, ob es nun um die »Araberfrage«, die Beziehungen zu England oder um gesellschaftliche Fragen ging. Sie neigten auch dazu, sich gegeneinander abzukapseln: Es gab Wohnsiedlungen nur für Angehörige des religösen Lagers oder nur für solche des Arbeiterlagers; jede Gruppe pflegte ihre Subkultur. Die jüdische Gesellschaft in Palästina war fragmentiert und polarisiert. Gleichwohl führte die Hoffnung, ein »freies Volk im eigenen Land zu sein«, wie es in der Nationalhymne »Hatikwa« heißt, dazu, dass sich in der Vielfalt und Zersplitterung doch die Einheit durchsetzte.
 
Die britsche Mandatsregierung
 
Die Mandatsregierung suchte so viele Befugnisse wie möglich an Juden und Araber abzutreten, die gemeinsam ihre Selbstständigkeit erlangen sollten. Schon im April 1920 wurde im jüdischen Sektor der Rat der Versammelten gewählt. In der Mandatszeit fanden vier Wahlen zu diesem Rat statt, der aus seiner Mitte, entsprechend der Parteienstärke, den Nationalrat bestimmte, dessen Befugnisse nur das Gesundheits- und Erziehungswesen umfassten. Die Statuten des Mandats legten zudem fest, dass eine jüdische Agen- tur — wie auch eine arabische — die Regierung unterstützten sollte. Die zionistische Bewegung wurde als Träger einer solchen »Agentur« anerkannt. Mit der Ausweitung der Jewish Agency auf nichtzionistische Mitglieder 1929 verband Chaijim Weizmann die Hoffnung, auch nicht zionistisch gesinnte Juden für den Aufbau Palästinas zu interessieren. Es existierten praktisch zwei jüdische Nebenregierungen, der Nationalrat sowie die zionistische Exekutive mit der ihr verbundenen Jewish Agency, die in Palästina und in der Diaspora einen Apparat mit staatlichem Charakter unterhielt.
 
In der Frage der öffentlichen Sicherheit betrachtete sich die Mandatsregierung als allein zuständig. Die jüdischen Bataillone, die während des Ersten Weltkriegs auf britischer Seite gekämpft hatten und ab 1918 in Palästina stationiert waren, wurden aufgelöst. Angesichts dieser Entwicklung gründeten die Zionisten die halb legale, von der Histadrut unterhaltene Wehrorganisation Haganah (Verteidigung), die Waffen zu lagern und zu produzieren begann. Die Jahre 1922 bis 1928 verliefen ruhig, was hauptsächlich dem seit 1925 amtierenden britischen Hochkommissar, Feldmarschall Herbert Plumer, zu danken war. Um einerseits die Araber nicht zu provozieren und andererseits den Juden in ihren entlegenen Siedlungsgebieten das Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, verteilte die britische Regierung »versiegelte Kisten«, die sealed armouries, in denen Gewehre und andere leichte Waffen aufbewahrt wurden. Sie durften nur im Falle eines Angriffs benutzt werden. Alle halbe Jahre erschien ein britischer Polizist in den Siedlungsgebieten, überprüfte die Versiegelung, kontrollierte die Waffen und versiegelte die Kisten von neuem. Das Ganze hatte operettenhafte Züge, aber solange im Land Ruhe herrschte, nahm keiner Anstoß daran.
 
Ein blutiger Aufstand und seine Auswirkungen
 
Der Mufti von Jerusalem hatte in diesen Jahren begonnen, im Rahmen seiner Verantwortung über die religiösen Besitztümer und Einrichtungen der Muslime eine von seinen Anhängern besetzte Verwaltung aufzubauen. Nachdem bei den Wahlen zum »Obersten Muslimischen Rat« (1926) sowie bei Kommunalwahlen (1927) in den Städten Kandidaten seiner innerarabischen Gegner gesiegt hatten, gewann er den Eindruck, dass die Periode innerer Ruhe seinen Zielen nicht genützt hatte. Um seine Herrschaft zu festigen, bediente er sich daher des Sprengstoffs religiöser Leidenschaften. Er griff die Entgleisungen jüdischer Splittergruppen, die die Klagemauer im Sinne des Zionismus instrumentalisieren wollten, auf und schürte im Sommer 1929 Unruhen gegen die jüdischen Bewohner Palästinas, denen etwa 133 Juden zum Opfer fielen. Mit diesem blutigen Aufstand befestigte der Mufti seine Herrschaft und leitete eine für die Vierzigerjahre verhängnisvolle Entwicklung ein. Währenddessen suchte die britische Mandatsregierung im Rahmen eines zweiten »Weißbuches« die jüdische Einwanderung einzuschränken.
 
 Entwicklung des Zionismus in den Dreißigerjahren
 
Nicht alle Juden begriffen, welche Bedeutung die Ernennung Hitlers zum deutschen Reichskanzler hatte. Viele wiegten sich in der Hoffnung, dass dies sehr bald vorüber sein würde. Die zionistische Bewegung jedoch hegte keine Illusionen. Natürlich, die Vernichtung der europäischen Juden, die die NS-Führung 1941/42 beschließen und organisieren sollte, konnte auch sie Anfang 1933 nicht ahnen. Sie ging davon aus, dass die Nationalsozialisten die Juden zur Emigration zwingen würden und betrachtete ihre Aufgabe in Palästina darin, Zufluchtsorte für diese Juden zu schaffen und ihnen konstruktive Perspektiven zu bieten: eine neue Heimat, Anknüpfung an ihre hebräischen Wurzeln, Selbstbestimmung statt Assimilation, Stolz darauf, Jude zu sein durch die Schaffung einer neuen Gesellschaft, eines neuen Volkes. Chaijim Arlosoroff, der als politischer Leiter der Jewish Agency quasi als »Außenminister« des Jischuw amtierte, gelang es, mit dem Deutschen Reich das »Haavra«-Abkommen zu vereinbaren. Juden, die über ein bestimmtes Kapital verfügten, benötigten keine Einwanderungszertifikate und durften mit einem Teil ihrer Habe nach Palästina ausreisen. In ihrer ersten Phase trug diese fünfte Einwanderung fast ausschließlich »deutschen« Charakter. Danach gelangten Juden aus Österreich, der Tschechoslowakei, aus Polen, den baltischen Ländern und in den Jahren vor Kriegsbeginn auch »illegale Einwanderer« aus allen Ländern Europas nach Palästina. 1933 waren es 37337 Juden, 1934 bereits 45267 und 1935 sogar 66472. Die deutschen Juden setzten, nur auf gründlichere Weise, in Palästina fort, was die Einwanderer der vierten Welle angelegt hatten. Es entstand eine städtische Gesellschaft, und Tel Aviv, Haifa und Ramat Gan erhielten ihr mitteleuropäisches Gepräge. Die deutschen Einwanderer — die Jekkes, wie sie liebevoll genannt wurden — brachten technisches Können, Fähigkeiten, Geräte, industrielle Strukturen mit. Arbeitsplätze entstanden. Überall wurde modernisiert, investiert, gebaut. Angesichts dieser Prosperität betrachteten bald auch die Briten Palästina als eine »lohnende« Kolonie; sie glaubten, dass diese Entwicklung auch ihren imperialen Interessen dienlich sein könne. Die Steuereinnahmen kamen hinzu, auch dämmerte die Erkenntnis, dass die strategische Bedeutung Palästinas wegen der ordentlichen Infrastruktur stetig wuchs. Aber ab 1935, infolge der internationalen Ereignisse und des zunehmenden arabischen Drucks, änderten sie ihre Haltung, ohne allerdings die Dynamik der jüdischen Einwanderung völlig unterbinden zu können.
 
Innerhalb des jüdischen Sektors kam es zu einigen bedeutenden Veränderungen. Die Mapai wurde zur dominierenden Partei im Jischuw, während die Revisionisten sich in ihrer Radikalität selbst ins Abseits manövrierten. Ben Gurion amtierte ab 1935 nicht mehr als Generalsekretär der Histadrut, sondern als »Vorsitzender der zionistischen Exekutive und der Leitung des Sochnot« (der Jewish Agency). Dieser etwas unklare Titel bedeutete, dass Ben Gurion praktisch als der Regierungschef zu amtieren begann. Die Haganah, gut getarnt, fing an Waffen nach Palästina zu schmuggeln sowie eigene Waffen zu produzieren. Die nationalen jüdischen Institutionen begannen mit dem Aufbau eines Nachrichtendienstes, mit der Erfassung der Jugend und der wehrfähigen Männer und Frauen. Die neuen Einwanderer waren zumeist Jugendliche und sehr motiviert, entschlossen, niemals wehrlos zu sein. Die Haganah war, wie es der Historiker Igal Elam treffend formulierte, »der zionistische Weg zur Macht«. Ohne sich die militärische Diktion zu eigen zu machen, waren es gerade die Arbeiterbewegungen, die die Haganah stark prägten. Die treibende Kraft dahinter war David Ben Gurion.
 
Auch die palästinensische Gesellschaft unterlag einem Prozess der Wandlung, der allerdings eher einen destruktiven Charakter annahm. Der Mufti war nicht der einzige Radikale. Er hoffte, in Zusammenarbeit mit den Briten den Zionismus eliminieren zu können. Es entstanden radikale Parteien und Bewegungen, die sowohl die Juden als auch die Briten vertreiben wollten. Eine von ihnen war die Istiklal, die Unabhängigkeitspartei, die 1932 gegründet wurde. Diese und andere politische Kräfte begannen in Europa nach Verbündeten zu suchen, die antijüdisch und zugleich antibritisch eingestellt waren. Im Oktober 1933 kam es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Briten und Arabern, die die sofortige Beendigung der jüdischen Einwanderung verlangten. Es entstand ein Geheimbund, der sowohl islamisch als auch palästinensisch national motiviert war und die Juden ebenso wie die Briten bekämpfte.
 
Die internationale Entwicklung begünstigte die arabische Seite. Italien gelang es 1935 Äthiopien zu erobern, und damit bedrohte es die britischen Interessen im benachbarten Jemen. Vor diesem Hintergrund entstanden im arabischen Raum Vereinigungen, Pfadfindergruppen und Jugendverbände, die deutlich am italienischen Faschismus, später am deutschen Nationalsozialismus ausgerichtet wurden. Auch die regionale Entwicklung spielte eine Rolle. In Ägypten sahen sich die Briten gezwungen, mit den Nationalisten zu verhandeln, die größere Autonomie verlangten. Irak war ohnehin ab 1932, nominell jedenfalls, unabhängig. In Syrien brachte ein 50-tägiger Generalstreik gegen die Franzosen das öffentliche Leben zum Stillstand. Im März 1936 sahen sich die Franzosen gezwungen, mit den Syrern zu verhandeln. All das blieb nicht ohne Einfluss auf den Mufti, die Istiklal und die palästinensische Gesellschaft.
 
 arabischer Aufstand (1936—39)
 
Der arabische Aufstand begann am 15. 4. 1936 mit dem Mord an zwei Juden, die sich auf dem Weg nach Tel Aviv befanden. Vier Tage danach überfielen arabische Rebellen Juden in Jaffa, töteten 16 und verletzten 60 von ihnen. Daraufhin setzte eine jüdische Fluchtbewegung von Jaffa nach Tel Aviv ein. Am 24. 4. 1936 wurde in Nablus das Hohe Arabische Komitee gegründet, das bis 1948 als die, wenn auch nicht gewählte, Vertretung der Araber Palästinas galt. In dieser Dachorganisation waren alle Gruppen aktiv, die Istiklal, die Anhänger des Muftis und seine Gegner. Der Mufti selber wurde Vorsitzender des Hohen Arabischen Komitees und bestimmte weitgehend den Verlauf der Ereignisse. Das Komitee rief einen Generalstreik in Palästina aus, der so lange dauern sollte, bis alle seine Forderungen erfüllt seien: die Beendigung der jüdischen Einwanderung sowie neue Verhandlungen über den Status des Landes. Dieser Streik, der natürlich nicht »allgemein« oder total sein konnte, dauerte 175 Tage und leitete einen neue Phase im Kampf zwischen Juden und Arabern und im Verhältnis zu Großbritannien ein.
 
Der jüdische Sektor, mit dem arabischen Boykott konfrontiert, machte nunmehr Anstrengungen, um politisch, wirtschaftlich und militärisch stärker zu werden. In Tel Aviv wurde ein provisorischer Hafen errichtet, um nicht vom Jaffa-Hafen, dessen arabische Arbeiter streikten, abhängig zu sein. Die jüdischen Bauern waren selber überrascht festzustellen, dass sie in der Lage waren, die jüdische Gemeinschaft mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Auch in anderen Industriezweigen kam man ohne arabische Arbeiter aus, als sie auch dort fernblieben. Der Generalstreik schadete daher den Palästinensern wirtschaftlich gesehen mehr als den Juden. Der Terror jedoch war spürbar: Von April bis Oktober wurden 80 Juden getötet, 400 verletzt, von der Beschädigung von Eigentum ganz abgesehen. Die arabischen Aktivitäten, die auch antibritische Züge trugen, veranlassten die Briten, Armeeeinheiten aus benachbarten Ländern herbeizuschaffen, um der Unruhen Herr zu werden.
 
Auf jüdischer Seite kam die Frage auf, wie man auf diese Situation reagieren solle. Ben Gurion betrachtete die Lage sehr nüchtern: »Für die Araber kommt der Aufstand zu spät. Wir sind zu stark, als dass sie uns eliminieren können. Für uns kommt der Aufstand zu früh. Wir können, auf uns allein gestellt, seiner nicht Herr werden. Wir bedürfen noch der Kooperation mit England.« Das war auch der Grund, warum Ben Gurion die Haganah anwies, nur zurückhaltend zu reagieren. Terror sollte nicht mit Terror beantwortet werden, um nicht die britische Öffentlichkeit gegen den Zionismus aufzubringen. Diese Politik wurde nicht von allen Mitgliedern der Haganah gebilligt. Ein Teil von ihnen trat 1937 aus der Haganah aus und gründete den ETZEL, eine nationale militärische Organisation, die mit der Revisionistischen Partei liiert war und mit dem Gegenterror begann.
 
Als die Palästinenser erkannten, dass Generalstreik und Terror nichts fruchteten, suchten sie nach einem Ausweg. Am 10. 10. 1936 appellierte Nuri as-Said, der Regierungschef des Irak, auch im Auftrag Saudi-Arabiens, Transjordaniens und des Jemen an die Palästinenser, den Streik ohne Verzicht auf dessen Ziele zu beenden. Dieser Bitte kam der Mufti nach. Im November kam eine von Lord Robert Peel geführte Untersuchungskommission ins Land, die nach Befragung aller für einen Entscheid wichtigen Persönlichkeiten zu der Schlussfolgerung kam, dass die Teilung Palästinas in einen souveränen jüdischen und einen souveränen arabischen Staat der einzige Ausweg sei, von einigen Teilen des Landes abgesehen, die weiterhin unter britischem Mandat verbleiben sollten. Im Juni 1937 veröffentlichte die Peel-Kommission ihren Bericht und ihre Vorschläge. Danach sollte ein jüdischer Staat im Umfang von 5000 km2 entstehen, der das Galiläische Bergland im Norden und die Küstenebene umfassen sollte. Die zionistische Bewegung war mit den anvisierten Grenzen nicht einverstanden, stimmte aber dem Prinzip der Teilung zu. Die Araber lehnten auf ihrem Kongress in Bludan, einer Stadt in Syrien, im September 1937 die Teilung ab.
 
Zwischen September 1937 und Oktober 1938 fielen etwa 400 Juden arabischen Terroraktionen zum Opfer. Es gab Hunderte von Verletzten und große Verwüstungen. Gleichwohl erreichten die Araber ihr Ziel nicht, sondern eher das Gegenteil. Die Haganah ging von der passiven Abwehr arabischer Angriffe ab und griff unter der Devise Jezia Mehagader (den Zaun verlassen) besonders die arabischen Orte an, in denen die Drahtzieher des Aufstandes saßen. Um seine Besiedlungspolitik zu sichern und zu erweitern, begann der Jischuw mit der Politik von Choma Umigdal, der Errichtung von Schutzmauern und Wachtürmen. Solche Gründungen erfolgten binnen ein, zwei Tagen — insgesamt etwa 60. Antiguerilla-Einheiten und mobile Einheiten wurden aufgestellt, die Arbeit des Nachrichtendienstes intensiviert. All das trug Früchte und die Juden Palästinas staunten, welch moderne, effektive Infrastruktur sie geschaffen hatten.
 
Aber die internationale Lage begünstigte das Anliegen der Araber. Der britische Premierminister Arthur Neville Chamberlain fürchtete einen deutschen Angriff im Nahen Osten. Er wusste, dass die Kanalzone nur zu verteidigen war, wenn die Bevölkerung dort England wohlgesonnen blieb, jedenfalls nicht aktiv Partei für Mussolini oder Hitler ergreifen würde. Der Zionismus wurde von ihm zusehends als ein Störfaktor betrachtet, der die Position Englands im Nahen Osten und in der islamischen Welt untergrub. Peels Vorschläge, einen jüdischen Staat von ungefähr 5000 km2 zu gründen, wurde jetzt plötzlich als »projüdisch« erachtet. Eine neue Kommission, benannt nach ihrem Vorsitzenden Sir John Woodhead, schlug einen jüdischen »Staat« zwischen Zichron Jakov und Tel Aviv vor — eine »Enklave« in der Größe von 1250 km2 entlang der Küste. Darüber hinaus setzte die Regierung in London Harold MacMichael, einen dezidiert proarabischen Politiker, als Hochkommissar in Palästina ein. Nachdem der Aufstand im Oktober/November militärisch im Wesentlichen eingedämmt worden war, suchte MacMichael die Araber zu beschwichtigen. Im Februar 1939 lud Chamberlain Juden wie Araber zu Gesprächen in den Saint-James-Palast in London ein. Die Araber weigerten sich bei dieser Gelegenheit, mit den Juden direkt zu verhandeln; britische Beamte, oft Chamberlain persönlich, pendelten zwischen den getrennten Delegationen beider Seiten, übermittelten ihre Vorschläge, gaben bekannt, was sie wollten und was sie ablehnten. Natürlich wurde kein Einvernehmen erzielt.
 
Chamberlain ließ sich nicht beirren. Er sah sich ironischerweise sogar bestätigt. Er spürte, dass ein Krieg unausweichlich sein werde. In diesem Fall zählten die Sympathie und das Wohlwollen der arabischen Welt mehr als die Sympathie der Juden. Hinzu kam, dass er sich der Unterstützung der Juden ohnehin gewiss sein konnte. Die Araber hatten die Möglichkeit, zwischen London und Berlin zu lavieren. Diese Möglichkeit stand den Juden nicht offen. Die Briten konnten jedoch nicht, selbst wenn sie es wollten, die etwa 450000 Juden, die 1939 bereits in Palästina lebten, ignorieren. So versuchten sie weiterhin, die Araber zu beschwichtigen. In ihrem am 15. 5. 1939 veröffentlichten dritten Weißbuch verfügten sie die Begrenzung der Einwanderung für die kommenden fünf Jahre auf 75000 Personen. Danach sollte sie nur mit Zustimmung der Palästinenser erfolgen; der Bodenerwerb wurde praktisch umöglich gemacht. Die Juden sollten sich mit der Situation abfinden, in Palästina eine Minderheit von etwa einem Drittel der Bevölkerung zu bleiben.
 
Der Jischuw kämpfte gegen die Festlegungen des Weißbuchs, intensivierte die Einschleusung von Einwanderern nach Palästina und verstärkte die Angriffe auf Einrichtungen der britischen Armee. Über all dem lag die Erkenntnis, dass es in Europa sehr bald zu einem Krieg kommen werde, in dem England gegen das nationalsozialistische Deutschland und folglich, gewollt oder ungewollt, für das Überleben des jüdischen Volkes kämpfen werde. Das hemmte die jüdische Bereitschaft, gegen die Briten vorzugehen.
 
Das Gefühl, dass es »sehr bald so weit« sein werde, beherrschte auch den 21. Zionistenkongress, der im August 1939 in Zürich stattfand. Es war eine bedrückende Atmosphäre, da viele der Delegierten ahnten, dass sie sich das letzte Mal sehen würden; sie nutzten die Gelegenheit, »Kameraden, lebt wohl« zu sagen. Die Kriegsgefahr war da, dennoch: Der Schwerpunkt der Verhandlungen lag in der Formierung des Widerstands gegen das britische Palästinaweißbuch. Ben Gurion schilderte vor den Delegierten die Ursachen des Konflikts mit der Mandatsregierung. Er verkannte nicht, dass dieses Weißbuch, sollte es angewandt werden, eine tödliche Gefahr für den Zionismus bedeutete.
 
Dr. Nachum Orland
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Israel: Der Staat Israel und der Nahostkonflikt
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Zionismus: Die Ursprünge
 
 
Laqueur, Walter: Der Weg zum Staat Israel. Geschichte des Zionismus. Aus dem Englischen. Wien 1975.
 Na'aman, Shlomo: Marxismus und Zionismus. Gerlingen 1997.
 Orland, Nachum: Israels Revisionisten. Die geistigen Väter Menachem Begins. München 1978.
 
Zionismus. Texte zu seiner Entwicklung, herausgegeben von Julius H. Schoeps. Lizenzausgabe Wiesbaden 21983.

Universal-Lexikon. 2012.

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